Herausforderungen und Chancen muttersprachlichen Unterrichts beim Übergang von Elementarstufe zu Primarstufe

Abstract: In this article challenges and chances for mother tongue tuition in national educational institutes are discussed. Mother tongue teachers as mentors may close the gap between institutions of elementary and primary education for kids whose L1 is not the language mainly spoken in these institutions. It is discussed in how far KINDINMI takes a close look on these aspects in different countries, which are characterized by an institutional monolingual habitus regarding students with a different L1 than the majority language.

This article by Rainer Hawlik was published in Lindner, D. et al. (eds.) (2018): Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Aktuelle Fragen, Diskurse und Befunde zu pädagogischen Handlungsfeldern. LIT Verlag: Wien, p.197-p.208

Bis vor kurzem unterband es der Datenschutz in Österreich, dass Pädagoginnen und Pädagogen der Elementarstufe sich mit Pädagoginnen und Pädagogen der Primarstufe über einzuschulende Kinder austauschen konnten. Letztere ler­nten in der Schuleingangsphase der ersten Schulstufe die Kinder neu kennen und mussten deren Talente, Begabungen, Bedürfnisse und deren Werdegang neu erschließen.Durch die nationale Bildungsinitiative „Schuleingangsphase NEU“ soll die Vernetzung der Pädagoginnen und Pädagogen aus Elementar- und Primarstufe erzielt werden, was Kindern wie Eltern einen sanften Übergang zwischen diesen beiden Institutionen ermöglichen soll. Pädagoginnen und Pädagogen muttersprachlichen Unterrichts können bei diesem Übergang eine Schlüsselrolle einnehmen, wenn sie den Übergang mehrsprachiger Kinder von der Elementarstufe in die Primarstufe begleiten.

„Mutter, bitte sag mir in deiner Sprache, woher ich komme!“

Seit 1992 ist der muttersprachliche Unterricht Teil des österreichischen Regelschulwesens. Er ist ein Bekenntnis zur lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von schulpflichtigen Kindern. Dieses bildungspolitische Anliegen wird auch in anderen amtlich deutschsprachigen Regionen[1]wertgeschätzt. In Kantonen der Schweiz und auch in verschiedenen Bundesländern Deutschlands wird dieser „Muttersprachlicher Unterricht“ (früher auch „Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht“ bzw. „Muttersprachlicher Zusatzunterricht“) auch „Her­kunftssprachlicher Unterricht“ genannt. Beide Bezeichnungen sind als problematisch zu bezeichnen.

Mit Muttersprachewird auf eine Form von „Abstammung“ verwiesen, mit der die Vorstellung verbunden bleibt, dass Schülerinnen und Schüler, die in amtlich deutschsprachigen Regionen geboren und/oder aufgewachsen sind, die „Sprache der Mutter“ per definitionem als die erste eigene Sprache wahrnehmen (Dirim/Mecheril 2010); Herkunftsspracheunterstellt jenen Schülerinnen und Schülern der 2. und 3. Migrantinnen- und Migrantengeneration, dass sie nicht in jener amtlich deutschsprachigen Region geboren wurden, in der sie de facto geboren wurden.

Beide Ausdrücke werden über eine Sprache definiert, die im sozialen Raum den Eindruck vermittelt, als ob es sich um die erste und einzige erworbene Sprache in der Primärsozialisation dieser Kinder handeln würde. Diese Vorstellung trifft aber auf den Großteil der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen (vgl. Statistik Austria 2017) nicht zu, die den „Muttersprachlichen Unterricht“ in Österreich besuchen, und macht sie durch diese Bezeichnung darüber hinaus zu „Fremden“.

Die Zielsprache der Bildungseinrichtung (Kindergarten, Schule) ist für diese Kinder keine Fremdsprache, weil sie hier nicht temporär verbleiben (z.B. wegen Urlaubs), sondern mit dieser Sprache (L2 = Language 2, Zweitsprache) in ihrer lebensweltlichen Umgebung aufwachsen. Durch Migration – meist ihrer Eltern oder Großeltern – bedingt wachsen diese Kinder zwei- und/oder dreisprachig auf, mischen ihre Sprachen im Alltag und reagieren sprachlich bezogen auf jede einzelne Situation (vgl. Kreuz/Dirim 2008, Brizić  2009): „Kinder und Jugendliche entwickeln Sprachdomänen, kombinieren Sprachen, um die Vorteile zu nutzen, sich gefeilt und gewitzt zu äußern, greifen aber auch zur Möglichkeit, eine momentan oder längerfristig gegebene Lücke mit einem Ausdruck aus einer anderen Sprache zu füllen, sofern die Situation mehrsprachig gestaltbar ist“ (Dirim 2015a: 66). Diese Kinder sind so beschrieben als „mehrsprachig“ zu bezeichnen, weil das ihrem Habitus entspricht, bei dem sie sprachliche Ebenen ihrer Sprachen milieu- und situationsspezifisch einsetzen. Diese sprachlichen Fertigkeiten stehen aber eher im „[…] Widerspruch zu schulischen Praktiken und Normen des Sprachgebrauchs […]“ (Busch 2013: 55), die die Beherrschung einer Nationalsprache einfordern und ihren Schülerinnen und Schülern bei „Defiziten“ in Erst- und Zweitsprache mit dem stigmatisierenden Etikett der „Halbsprachigkeit“ bzw. der „Doppelten Halbsprachigkeit“ als indirekten Vorwurf begegnen. Beide sprachlichen Phänomene gelten heute als wissenschaftlich nicht haltbar und widersprechen den sprachlichen Repertoirekonzepten (vgl. Cummins 1994; Baker 2000).

In seiner gängigen Definition greift der „Muttersprachliche Unterricht“ nur einen Teilbereich des Sprachenrepertoires von Kindern und Jugendlichen auf und nicht eine „Muttersprache“ an sich. Genau diese Vielsprachigkeit bei Beherrschung unterschiedlicher Sprachenrepertoires in L1 und L2, die schulisch und außerschulisch erworben werden, ist gewissermaßen ihre Erstsprache. Es gilt, Kinder und Jugendliche in dieser Gesamtsprachlichkeit wahrzunehmen. In diesem Sinne wäre es sinnvoll, dass das Unterrichtsfach „Muttersprachlicher Unterricht“ einen neuen Namen erhält: „Migrationssprachen­un­terricht“ oder „Sprachunterricht in Arabisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Farsi, Romanes, Russisch, Somali, Türkisch etc.“ (vgl. Dirim 2015a).

Legitimtierte Sprachen der institutionen

Mehrsprachig aufwachsende Kinder sprengen schon längst den Rahmen „nationalstaatlicher Vorstellungen von Sprache“ (Dirim 2015a: 66), den ihnen die Bildungseinrichtungen Kindergarten und Schule mit ihrem „monolingualen Habitus“ (vgl. Gogolin 2008) geradezu „aufzwingen“ wollen, selbst wenn beide Institutionen von zwei unterschiedlichen institutionellen Logiken angetrieben werden: „[…] social integration is a substantial function of kindergarten, while social selection is a substantial function of the school system […]“ (vgl. Broström 1999). Bezüglich der Erstsprachen mehrsprachiger Kinder sind in beiden Institutionen „[…] Strategien der Abwehr und des Kleinhaltens von schulisch illegitimem Wissen […]“ (Reich 2000: 355) bemerk­bar.

Besonders frappant sichtbar werden diese Strategien in urbanen Räumen Europas, wenn Kinder eingeschult werden (vgl. Hamburger 2009; Hawlik 2016): In Wien sprechen 56,3 Prozent der schulpflichtigen Kinder, die in die Primarstufe kommen, Deutsch nicht als ihre Erstsprache (s. BMB 2017). Da diese Daten aus dem Schuljahr 2014/15 stammen und keine neuen Zahlen bislang veröffentlicht wurden, darf nach den Ereignissen im Sommer 2015 angenommen werden, dass dieser Prozentsatz nur mehr knapp unter 60 Prozent liegt. Wer legt aber nun in einer Stadt wie Wien – in der also die absolute Mehrheit der eingeschulten Kinder sich Deutsch als Zweitsprache aneignet – den Maßstab dafür fest, was Kinder in der „Zielsprache“ Deutsch beherrschen müssen, um dem Unterricht in der Primarstufe folgen zu können, denn es ist doch „[…] weitgehend ungeklärt […], welche Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Partizipation am Unterricht in der Primarstufe […] de facto nötig sind […]: Welcher Wortschatz muss mitgebracht werden? Muss die Verbendstellung im Nebensatz produktiv beherrscht werden oder sind bereits frühe Formen der Seperation, wie z.B. Modalverbkonstruktionen, ausreichend?“ (Döll 2012: 76).

Hier besteht der Verdacht, dass die Institution Schule von ihren Schülerinnen und Schülern bereits vor der Einschulung etwas einfordert, das es selbst nicht bewerkstelligt: Diese sollen bereits vor Schuleintritt „[…] eine Sprache und Kultur [kennen], die außerhalb der Schule erlernt wird“ (Bourdieu/Pas­seron 1971: 126). Für mehrsprachige Kinder aus sozio-ökonomisch und sozio-kulturell benachteiligten Verhältnissen stellen diese Anforderungen eine Barriere dar, die im Transit von Elementarstufe zu Primarstufe m.E. als „unüberwindbar“ charakterisiert werden muss, da diese Anforderungen in Wien (als Beispiel für einen urbanen Raum in Europa) je nach Einzugsgebiet und Schulstandort stark divergieren.

Hartnäckig gilt für mehrsprachige Kinder im Kindergarten die gesellschaftliche Erwartung, durch Deutscherwerb „schulfit“ zu werden. Zahlreiche Forschungsergebnisse des Projekts „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“ (2010-2011) machen deutlich, dass in Wien „trotz der de facto multilingualen Situation in den betroffenen Kindergärten eine weitgehende monolinguale Orientierung besteht“ (Datler 2013: 12) und dass zwar der „Wunsch der Wertschätzung der Erstsprachen der Kinder besteht, aber als vorrangiges Ziel im Kindergarten der Deutscherwerb steht“ (Datler 2011 u.a.: o.S.).

Als „nicht legitim“ gilt in beiden Bildungseinrichtungen somit das Wissen und die Kenntnis jener Sprachen, die verwendet werden dürfen, aber nicht als Sprachen der Institutionen gelten. Mathematikunterricht, Sachunterricht und Unterricht in kreativen Fächern versteht sich als Unterricht, der in der Schule mittels (Sprachunterricht in) Deutsch abgehalten wird. Fallweise kommt in beiden Bildungseinrichtungen noch eine Prestigesprache (z.B. Englisch, Französisch) als erste lebende Fremdsprache hinzu,die die bereits bestehenden (Unterrichts-)Sequenzensprachlich bereichert. Die gängigen Migrationssprachen aus der Lebensumwelt der Kinder aber kommen nicht vor. Sie werden weitgehend verschwiegen, auch weil Pädagoginnen und Pädagogen in beiden Institutionen Österreichs „durchgängig als Personen ‚ohne Migrationshintergrund‘ adressiert [werden], die den Umgang mit den migrationsgesellschaftlich ‚anderen‘ zu lernen haben. Dies verstärkt eine problematische gesamtgesellschaftlich vorherrschende Sichtweise von Subjekt (‚ohne Migrationshintergrund‘) und Objekt (‚mit Migrationshintergrund‘)“ (vgl. Karakaşoğlu/Mecheril 2017: 6).

Vermeintlich zum Objekt gemacht wird eine Person, die meist eine Migrationssprache minderen Prestiges als Erstsprache spricht. Sie wird als Einzelne zu einem „Menschen mit Migrationshintergrund“ gemacht, weil sie da­durch als Individuum in eine Kategorie eingeteilt wird, mit der man ihr eine Individualität zuschreibt, sie an ihre Identität fesselt, ihr ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das sie anerkennen muss und das andere in ihr anerkennen müssen (vgl. Foucault 1994: 246).  In beiden Institutionen arbeitet diese Per­son mit so genanntem Migrationshintergrund vorwiegend in schlechter gestellten Arbeitsverhältnissen (z.B. zeitlich befristete Arbeitsverträge) als Personen ohne so genanntem Migrationshintergrund: Im Kindergarten fungiert sie bei ungenügenden Deutschkenntnissen vorwiegend als Assistenzpädagogin/Assistenzpädagoge, die nicht nur assistierend für die Kinder, sondern auch für die Raumpflege zuständig ist. In der Institution Schule arbeitet sie als muttersprachliche/r Lehrerin/Lehrer, die in Wien gemäß institutioneller Rituale stets Gefahr läuft, den Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern untergeordnet pädagogisch „zuzuarbeiten“.

Selbstreflexive Institutionen für Übergang

Es bleibt unbestritten, dass Deutsch als die Sprache der Macht in Institutionen der amtlich deutschsprachigen Regionen von allen Kindern auf hohem Niveau angeeignet werden soll, um schlechter gestellten mehrsprachigen Kindern einen möglichst barrierefreien Bildungsweg zu ebnen (vgl. Mecheril/Quehl 2015: 151).

Diesen Weg zu ebnen, stellt für die beiden Bildungseinrichtungen Kindergarten und Volksschule eine große Herausforderung dar, da diese sich in städtischen Ballungsräumen oft „[…] durch die Homogenität ungünstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Übermaß an strukturellen Problemen“ (Fürstenau/Gomolla 2009: 75) auszeichnen, wie auch in folgendem Blogbeitrag über die Lage in öffentlichen Kindergärten Wiens festgehalten wird:

„Wenn ein Kind ein Sprachdefizit hat, sei es nun wegen eines Migrationshintergrunds oder aus anderen Gründen, ist die Angelegenheit in den meisten Fällen bereits verfahren. Denn es fehlt in all dem Kleinkindergewusel rundherum einfach die Zeit, auf Kinder einzugehen, die ein bisschen langsamer und nicht ‚Mainstream‘ sind. Auf sie eingehen hieße: sich eingehend mit ihnen beschäftigen, spezielle sprachfördernde Spiele mit ihnen spielen, den Augenkontakt suchen, damit sie verstehen und lernen, ihnen Zeit geben, Dinge zu erfassen. All das geht meistens gar nicht, weil eineinhalb Pädagoginnen schon über die Maßen damit beschäftigt sind, 25 Kinder pro Gruppe in so etwas wie einen geregelten Tagesablauf einzufügen“ (Stuiber 2017).

Es wird deutlich, dass in beiden Institutionen „[…] gelingender Einbezug und Ermöglichung von Partizipation […] habituelle Disponiertheiten berücksichtigen und achten [müssen], auch und gerade solche, die den üblichen institutionellen Erwartungen nicht genügen“ (Mecheril 2010: 186). Entscheidend ist dabei die Frage, welche institutionellen Erwartungen an die Kinder gerichtet werden.

Es stellt sich im sozialen Raum in Bezug auf die Funktion der Institution Schule und ihren Umgang mit bewusst schlechter gestellten mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern die Frage, ob die feinen Unterschiede(vgl. Bourdieu 1982) legitim sind und „[…] was die wirkliche Funktion eines Bildungssystems ist, das funktioniert, indem es während der Schulzeit die Kinder der Volks- und im geringeren Ausmaße der Mittelklassen aus der Schule eliminiert?“ (Bourdieu 1960: 59)

Auf Ebene der beiden Institutionen Kindergarten und Volksschule bedarf es „[des] Abbaus dysfunktionaler Grenzen zwischen Überzeugungen, Haltungen und professionellen Praktiken von Erzieherinnen und Grundschullehrkräften durch gemeinsame Planung sowie gemeinsame oder aufeinander bezogene Gestaltung pädagogischer Situationen und Handlungsstrategien; die Entwicklung anschlussfähiger und gemeinsamer Formen der pädagogischen Diagnostik auf der Grundlage datenrechtlicher Sicherungen“ (Knauf 2017: oA). Muttersprachlicher Unterricht, der bislang in der Elementarstufe nicht angeboten wird, kann beim Übergang von der Elementarstufe zur Primarstufe eine Schlüsselrolle einnehmen: Ein positives Selbstkonzept der einzelnen Kinder über sich selbst und ihre Erstsprache(n) bildet eine starke Ausgangsposition für Sprachlernprozesse; das „Selbstvertrauen in die zweitsprachlichen Kompetenzen und muttersprachliche Motivation (Interesse des Kindes an seiner Muttersprache) sind bedeutsame effektive Faktoren“, wie im neuen Leitfaden zur Grundschulreform „Sprachliche Förderung am Übergang vom Kindergarten in die Grundschule“ festgehalten wird (s. Sprachliche Förderung 2016: 10).

Gelingender Übergang für mehrsprachige Kinder

Ein gelingender Übergang von der Elementarstufe zur Primarstufe benötigt mehr als „Schulreife“ und sprachliche Fertigkeiten in der „Zielsprache“: Über­gang braucht für die einzelne Person Anerkennung, emotionale Bindung, Resilienz und Passungsgefühl („Suitability“) (Broström 2012: 1423). Wenn ein institutioneller Übergang möglichst vielen Kindern unserer Migrationgesellschaft gelingen soll, geht es um einen wertschätzenden, offenen, respektvollen und empathischen Umgang der pädagogischen Akteurinnen und Akteure beider Institutionen miteinander. Dabei entscheidend ist es, bei mehrsprachigen Kindern den „‚touristischen‘ Blick auf Phänomene der An­ders­heit“ abzulegen (Fürstenau/Gomolla 2009: 75) und ihr vermeintliches An­ders-Sein anzuerkennen und zu respektieren („welcome stranger“, Dahl­berg/Moss 2006: 15).

Der erfolgreiche Verlauf des Erwerbs von Erst- und Zweitsprache (Biliteralität) ist entscheidend davon abhängig, „welche Beziehungserfahrungen Kinder im Alltag des Kindergartens im Kontext von Sprache machen und in welcher Art und Weise Kinder in Gespräche involviert werden“ (Studener-Kuras 2013: 21). Es muss mehrsprachigen Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch in Kindergarten und Schule vermittelt werden, dass ihre Sprachen wertgeschätzt werden, dass sie verwendet werden dürfen, und es muss eine mögliche sprachliche Traumatisierung durch „Sprachverbote“ unterbunden werden: Im Kindergarten erfordert das „[…] den Einsatz muttersprachlicher BetreuerInnen, wovon einige schon seit längerem in den Wiener Kindergärten eingesetzt werden, um sich mit den Kindern (und Eltern) auch in ihren Sprachen verständigen zu können, v.a. in emotional schwierigen Situationen. Oder um möglichst gute Diagnosen in Fragen der altersgemäßen Sprachentwicklung stellen zu können“ (De Cillia 2013: 19). In der Institution Schule sind es muttersprachliche Lehrerinnen und Lehrer, die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer mit ihren sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Klassenforen und Elternsprechtagen unterstützen.

Als grundlegende und die Institutionen Kindergarten und Volksschule verbindende inhaltliche Auffassung ist das Bewusstsein, dass die Kinder sich die Welt durch Sprache erschließen. Wenn ein Miteinander-Sprechen und Einander-Zuhören als Grundlagen sozialen Zusammenlebens und als Basis mündlicher Kommunikation im Alltag angesehen werden, so gilt das nicht nur für die institutionelle Zielsprache. Ziel ist die Förderung der Sprachrezeption (Hören) sowie der Sprachproduktion (Sprechen) in allen Sprachen mehrsprachiger Kinder, denn Befunde aus der Spracherwerbsforschung sprechen eindeutig für eine „gleichzeitige Förderung in der Erstsprache von Kindern nichtdeutscher Muttersprache und für eine ausgewogene Zweisprachigkeit als Lernziel“ (De Cillia 2013: 19). Schließlich gilt es „in der Forschung als gesichert, dass zweisprachige Kinder nicht nur von einer möglichst früh einsetzenden Förderung in der L2 profitieren, sondern auch von einer Literalisierung in der Erstsprache und einem langfristigen L1-Unterricht“ (De Cillia 2013: 18).

Entwicklungeines neuen Berufsbildes

Als zu entwickelndes Berufsbild gilt die Vorstellung, dass Pädagoginnen und Pädagogen, die muttersprachlichen Unterricht erteilen, tatsächlich als Mentorinnen und Mentoren einzelne mehrsprachige Kinder im letzten Jahr in der Elementarstufe und im ersten Jahr in der Primarstufe begleiten, zweisprachig fördern und sie als auch ihre Eltern bei erzieherischen und Fragen zu institutionellen Besonderheiten (wie etwa bei Entwicklungsgesprächen, alternativer Leistungsbeurteilung) beraten. Als glaubhafte Bezugspersonen für mehrsprachige Kinder in diesem sensiblen Elementar- bzw. Vorschulbereich agieren diese pädagogischen Akteurinnen und Akteure mit Migrationsbiografie, um den Übergang Elementarstufe-Primarstufe für mehrsprachige Kinder zu erleichtern. Bei dem ERASMUS+-Projekt KINDINMI(“The kindergarten as a factor of inclusion for migrant children and their families”) werden die Partnerinstitutionen Uppsala Universitet (Schweden), University of Aberdeen (Ver­einigtes Königreich, Schottland), Univerzita Palackeho v Olmouci (Tsche­chien) und PH Wien (Österreich) in der Projektlaufzeit von September 2017 bis November 2019 u.a. der Frage nachgehen, welches Potential in der Einbindung muttersprachlicher Pädagoginnen im Elementarbereich für mehrsprachige Kinder in den betreffenden Ländern liegt.

Ähnlich den bereits in Wiener Kindergärten tätigen Sprachförderas­sisten­tinnen- und assistenten, von denen bereits ein Drittel eine andere Erstsprache als Deutsch hat, bestünde ihre Aufgabe im Kindergarten nicht nur in der Abklärung des Sprachstandes der Familiensprache der Kinder und die Optimierung der Kommunikation zwischen mehrsprachigen Eltern einerseits und Pädago­gin­nen und Pädagogen bzw. Institution andererseits (vgl. Zell 2013). Als muttersprachliche Mentorinnen und Mentoren erkennen und gestalten sie die gezielte Nutzung von sprachförderlichen Situationen, bieten gezielte pä­da­gogische Interventionen zur sprachlichen Bildung und Förderung der Spra­chen an, stellen mündlich Sprachvergleiche zwischen Erst- und Zweitsprache her und fokussieren die Enwicklung der Erstsprache.

Pädagogik als eine „Frage der gemeinsamen Herstellung von Kultur und Wissen zwischen verschiedenen Kindern und verschiedenen Perspektiven“ (Göthson 2009: 1311) respektiert die Bedeutung der sozialen Beziehung: „It is often necessary to address emotional needs before the academic ones“ (DeCapua/Smathers/Tang 2012: 33). Ein professionelles Verständnis von Careals “Betreuung” würde Kindern und vor allem ihren Eltern den offenen Zugang zu Räumen ermöglichen, in denen Betreuung nicht als Erklärung und Unterweisung in den rezepthaften Umgang mit nationalen Bildungseinrichtungen im Dienste der Integration (Assimilation) verstanden wird, sondern als das Vermitteln von klar sichtbaren Botschaften, die zeigen, dass es im Sinne eines Anti-Bias-Ansatzes eine kontinuierliche Betreuung und Begleitung von diskriminierungsgefährdeten Kindern und ihren Eltern in der Triangulisierung Kind-Eltern-Institution notwendig ist. Im Gegensatz zu bisherigen Ansätzen im Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz, bei der Assimilation (gedacht als Forderung oder Beschreibung) für mehrsprachige Kinder bloß eine Bestätigung von Dominanzstrukturen der Angleichung an bestehende Strukturen und Verhältnisse der Majoritätsgesellschaft darstellt, eröffnet eine transmigratorische Perspektive diesen mehrsprachigen Kindern plurale Identitätsformen und Mehrfachzugehörigkeiten, (Mecheril 2010: 187) Entscheidend ist dabei die Betonung der Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Verbindungen zu mehreren nationalkulturellen Kontexten, die symbolisches und faktisches Pendeln ermöglicht.

Als glaubhafte pädagogische Akteurinnen und Akteure agieren muttersprachliche Mentorinnen und Mentoren lokal nicht nur institutionell, sondern auch außerhalb der Institutionen als Ansprechpersonen für Eltern. Sie bereiten Eltern durch informelle Gespräche und Beratungen im sozialen Raum (Elterncafés, Jugendtreffs, Beratungsstellen der Stadt im Umfeld von Kindergarten)  auf die neue Institution Schule vor, die mit ihren eigenen sprachlichen und kulturellen Codes operiert (Bernstein 1971: 47). In Abstimmung mit den Pädagoginnen und Pädagogen beider Institutionen vermitteln sie Literalitätserfahrungen in Erst- und Zweitsprache, indem sie die Eltern einbinden („Kieler Modell“; vgl. Apeltauer/Hoppenstedt 2010). Den mehrsprachigen Kindern werden sie zu bekannten Gesichtern, wenn sie im ersten Schuljahr im Rahmen der frühen Schuleingangsphase präsent sind und weiterhin das „Hören, Sprechen und Miteinander-Reden“ in Erst- und Zweitsprache anleiten. Sie fungieren für die Kinder als Sprachvorbilder. Sie haben Freude an der Sprache und die Bereitschaft, über ihr Sprachbewusstsein und das eigene sprachliche Handeln kontinuierlich zu reflektieren, weil ihnen bewusst ist, dass es bedeutsam ist, dass „[…] durch Sprache etwas Relevantes vermittelt wird, dass bedeutsame Erfahrungen und Gefühle ausgedrückt und Interessantes und Herausforderndes, auch Vergangenes und Entferntes, berichtet […] “ wird (Anstatt 2007: 15).

Muttersprachliche Mentorinnen und Mentoren wären dann Teil vonselbstreflexiven Institutionen des Bildungssystems, die für Ermöglichungsstrukturen sprachlicher Befähigung in migrationsgesellschaftlicher Mehr- und Vielsprachigkeit eintreten, um das Maß an Missachtung und Herabsetzung der mehrsprachigen Kinder in ihren Institutionen zu minimieren. Solche Institutionen wären Ausdruck einer Gesellschaft, die von „der Idee der Veränderung der Verhältnisse inspiriert […]“ (Mecheril 2015: 49) sind, in der Pädagoginnen und Pädagogen sich „vom organisatorischen Kalkül oder der exklu­dierenden Kultur der [jeweiligen] Institution“ (Mecheril 2010: 74) abzu­setzen, um anders zu handeln. Pädagogische Akteurinnen und Akteure beider Institutionen begegnen einander „auf Augenhöhe“, um gemeinsam auf ein Ziel den Blick zu schärfen: mehrsprachige Kinder aus sozio-ökonomisch und sozio-kulturell benachteiligten Verhältnissen zu unterstützen, die im Übergang von der Elementarstufe zur Primarstufe begleitet werden.

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[1]   Zur Definition „amtlich deutschsprachige Region“ führt Dirim Folgendes an: „Dieser Begriff wird als Ersatz für den Begriff ‚deutschsprachige Länder‘ verwendet, der zwar verbreitet, aber nicht zutreffend ist. Damit soll auf das Spannungsverhältnis zwischen amtlicher Einsprachigkeit im Deutschen und faktischer Mehrsprachigkeit des Alltags aufmerksam gemacht werden. Da allerdings die adressierten Staaten als Amtssprache nicht nur Deutsch haben, ist der Begriff ‚Land‘ durch ‚Region‘ ersetzt“ (Dirim 2015b: 26).